Dieses Buch ergänzt meine Studie zur frühsowjetischen Reisereportage: Es folgt der Frage nach, wie dokumentarisch grundierte Projekte aus Ost(mittel)europa nach 1989/1991 die avantgardistische Faktografie als Methode künstlerischen Forschens rezipieren, adaptieren und medial übersetzen. Zur Untersuchung stehen Ergebnisse empirischer Vorgehensweisen seitens Intellektueller, die mit Text, Bild und Sound arbeiten, darunter die Smartphone-Fotografie von Dmitrij Markov, Zeichnungen von Viktoria Lomasko, literarische und gonzojournalistische Texte von Andrzej Stasiuk resp. Ziemowit Szczerek sowie eine Reihe von Dokumentarfilmen. Meine exemplarischen Annäherungen an das Material, das sich selbst empathisch und kritisch seinen Gegenständen annähert, beleuchten ästhetische – darunter intermediale – Verfahren, kulturelle/performative Praktiken und argumentative Strategien des humanistischen, sozialen und politischen Engagements zeitgenössischer Dokumentarkünste. Beim erzählenden Zeigen postsozialistischer Probleme amalgamieren sie u.a. die sowjetische und die polnische Reportagetradition zu neuen Poetiken, Kommunikations- und Denkangeboten.
Die Monografie untersucht die sowjetische Reiseskizze (путевой очерк) der Zwischenkriegszeit - ein zentrales politisches Mittel des Aufbaupathos, ein transgressives und interkulturelles Genre, das wie kein anderes die russischsprachige Literatur für neue Technologien geöffnet hat. Es erstarkt mit dem Zeitschriftenboom der 1920er Jahre und bewahrt bis heute seine Aktualität. Nachdem sich die Skizze aus der gesamteuropäischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und aus dem Kulturjournalismus formiert hat, entwickelt sie sich zur journalistisch-literarischen (Foto-)Reportage. Das Massenmedium inkludiert neben Künstler_innen jüdischer Herkunft eine Reihe von Frauen, darunter Vera Inber, Mariėtta Šaginjan und Zinaida Richter.
Die Studie nimmt die Konfiguration des reisenden Schreibens (Fotografierens, Filmens) in den Blick, damit einhergehende Rollen der Akteure sowie der ihnen zur Verfügung stehenden Bewegungs-, Aufzeichnungs- und Erzählmittel. Close readings auf der Basis eines intertextuellen und-medialen Zugangs entwerfen eine flexible Typologie, die die fluide Genrehaftigkeit als produktiven Zustand diskutiert. Vergleichs-, Evidenz- und Abenteuernarrative greifen dabei ineinander über. Für das Erfassen des Konnex mobiler Praktiken und intertextueller Poetiken unterbreitet die Analyse das Konzept der Intertravelität.
Das Projekt unternimmt einen Innenblick in Lebenswelten von Kulturschaffenden auf der Halbinsel im Schwarzen Meer. Diese ist in der älteren, aber auch in der jüngeren Geschichtemehrfachvon Konflikten heimgesucht worden. Wie verläuft das Alltagsleben auf der Krim seit 2014jenseits der Diskurse um internationales Recht, Grenzen und Krieg? Wie reflektieren Intellektuelle vor Ort die angespannte Situationzwischen Ukraine und Russland? In welchem Verhältnis befindet sich die Kunst, die auf der Krim entsteht, zum künstlerischen Reservoir des sogenannten ,Krim-Textes’? Was kann sie leisten, um der politischen Krise zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine entgegenzusteuern? Das Projekt beleuchtet diese Fragen anhand einer filmischen Langzeitbeobachtung, die visuelle Anthropologie und literaturwissenschaftlichen Intertext kultursemiotisch verbindet. Im Rahmen einer iterativen Feldforschung entstehen Video-Interviews mit fünf zentralen Protagonist*innen und sieben Expert*innen. Langfristig werden die Aufzeichnungen mit übersetzten Untertiteln der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Sie bilden die Grundlage des Dokumentarfilms, der am Ende des Projekts geschnitten wird, begleitet von einem Essay. Letzterer kontextualisiert die Porträts der Protagonist*innen mit den zentralen Problemen, die sie artikulieren, im kulturhistorischen Komplex zwischen Geopolitik und poetischer Reflektion. Darüber hinaus diskutiert er den Feldforschungsprozess sowie die Arbeit am Film. Beide Ergebnisse, Film und Essay, leisten einen Beitrag zur Analyse der symbolischen Struktur postsozialistischer Transformation. Sie setzen einen Dialog mit Westeuropa fort, den geopoetische Aktivist*innen zu Beginn der 1990er Jahre eröffnet haben. Damit verfolgt das Projekt ein friedenssicherndes Interesse.
Workshop mit Filmpremiere
Link zum Event
Krim: Erkundungen am Rand Europas
Link zum Buch
Dr. Tatjana Hofmann
Wissenschaftlerin, Autorin und ÜbersetzerinE-Mail: tatjana.hofmann@unisg.ch
Tatjana Hofmann 2024 ©
Alle Rechte vorbehalten.